27 Oktober 2005

20 Thesen zur iranischen Nuklearkrise

Ich halte die Situation gegenüber Iran mittelfristig für äußerst brisant. Die USA oder Israel werden möglicherweise eine begrenzte militärische Operation gegen Iran durchführen, ganz gleich, ob dies nun gegenwärtig unterhalb des Aufmerksamkeits-Radars der Medien verschwunden ist oder nicht. Obgleich Iran Jahre von einer einsatzfähigen Kernwaffe entfernt ist, ist man in Tel Aviv, Washington und London der Auffassung, dass der technologische „point of no return“ sehr bald erreicht sein könnte.

Das Zeitfenster ist technisch bedingt durch jenen Zeitraum, bis die Russische Föderation den Bushehr Reaktor im Iran mit Brennstäben beladen haben wird, derzeit ist die Rede von Anfang bis Ende 2006. Bis dahin gibt es ein bedingtes und letztes Verhandlungsfenster zu einer nichtmilitärischen Lösung, sofern die Entscheidung in den USA zu einer militärischen `Lösung´ nicht ohnehin schon gefallen ist.


Einige Thesen und Prognosen dazu:

1) Iran erkennt das nationale Existenzrecht Israels nicht an. Das jetzige Regime unter Präsident Ahmadineschad hat erst kürzlich wieder gefordert „Israel von der Landkarte zu tilgen“. Ein nuklear bewaffneter Iran stellt somit für Israel eine existentielle Bedrohung dar. Israel wird im Zweifelsfall vollständig alleine handeln, d.h. militärisch intervenieren, wenn keine andere `Lösung´ des iranischen `Nuklearproblems´ gefunden werden sollte.

2) Ein offenes oder auch nur ein opakes militärisches iranisches Nuklearprogramm wird anderen potentiellen Proliferateuren einen neuen Motivationsschub liefern, etwa Saudi-Arabien oder Ägypten. In beiden Ländern wurde bereits ernsthaft über ein eigenes Kernwaffenprogramm räsoniert.

3) Jene Neocons, die schon vor dem Amtsantritt von Bush Sohn 1 einen militärischen Regime-Wechsel im Irak anstrebten, beabsichtigen gleiches im Iran. Die Nuklearpolitik des Iran ist nur ein Mittel zu diesem Zweck. Zum Amtsantritt von Bush 2 war sofort - wiederum von Cheney - die militärische Option gegenüber Iran ins Spiel gebracht und seitdem von Bush persönlich niemals dementiert worden.

4) Es geht dabei um die Vision einer völligen Neuordnung des Nahen Ostens und um die dauerhafte Machtprojektion seitens der USA im Raum des Persischen Golfes und der dortigen Öl-Reserven und um eine Schwächung der OPEC. All dies wurde nicht nur gegenüber Irak, sondern auch gegenüber Iran lange vor dem Amtsantritt von Bush 1 in Planungspapieren der Neocons deutlich artikuliert und ist auf Punkt und Beistrich zitierfähig und nachweisbar. Durchaus seriöse Power Point Präsentationen der U.S. Army für interne Lehrzwecke zum Thema `Länderkunde Iran´ beginnen nicht umsonst immer mit der gleichen Folie über die nachgewiesenen Erdöl- und Erdgasreserven des Iran. Die strategische Kontrolle der Straße von Hormus bedeutet eine Kontrolle über den `Lebensnerv´ des gesamten Ölflusses aus der Golfregion. Jeder Öltanker, gleich von welchem Terminal aus den Golfstaaten, Irak oder Iran, muss diese Meerenge passieren. Alle militärischen Planspiele der USA gehen davon aus, diese Meerenge strategisch zu `sichern´ und dem Iran die potentielle Kontrolle darüber zu verwehren.

5) Die Angst vor einem möglicherweise nuklear bewaffneten Iran ist zum Teil berechtigt, zum Teil maßlos übertrieben. Technisch gesehen ist Iran Jahre von einer einsatzfähigen Kernwaffe entfernt und auch Jahre davon, eine solche auf Trägersystemen zustellen zu können. Nur zwei Beispiele: 1) Irans UF6 Produktion ist mit schweren technischen Mängeln (Veruneinigungen) behaftet, die eine Hochanreicherung gegenwärtig als nicht realisierbar erscheinen lassen. 2) Die Zentrifugen, die Iran über das A.Q. Khan-Netzwerk erhalten haben dürfte, sind aller verfügbarer Information nach letztklassig.

6) Gleichwohl ist es zutreffend, dass das Iranische Regime entweder ein klar militärisches Nuklearprogramm betreibt, sich die Option darauf erhalten möchte oder zumindest den Schein dessen erwecken möchte, um Verhandlungsmasse zu haben. Es gibt kein energiepolitisch vernünftiges Motiv für die Errichtung von Kernkraftwerken einer großen Zahl im Iran und schon gar nicht für die Etablierung der Urananreicherung, zumal der Liefervertrag zum Kernkraftwerk von Bushehr seitens der Russischen Föderation die Lieferung und Rücknahme der Brennelemente enthält.

7) Iran wird höchstwahrscheinlich seinen bisherigen Kurs beibehalten und darauf bestehen, die Urananreicherung selbständig weiter zu entwickeln, bzw fremde technologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen, was seitens seiner eingegangenen Verpflichtungen gegenüber dem NPT-Regime und der IAEA grundsätzlich zulässig ist. Eine selbständige Urananreicherung stellt keine grundsätzliche Verletzung dar.

8) Israel ist eine der treibenden Kräfte hinter den Kulissen. Die „Internationalisierung“ des iranischen Nuklearprogramms ist ua auf den Druck Israels zurückzuführen. Seit etwa drei Jahren behaupten israelische Militärs, Politiker und Geheimdienstleute abwechselnd, Iran sei in technischer Hinsicht etwa ein halbes Jahr bis ein Jahr von einem „point of no return“ von einer Nuklearbewaffnung entfernt. Wenn die internationale Gemeinschaft dieses Problem nicht lösen könne, so müsse es die Israelische Air Force tun, mit Verweis auf den Angriff auf den Osirak-Reaktor im Irak im Juni 1981.

9) Ein Scheitern der multilateralen Verhandlungen EU-Iran, das ich für wahrscheinlich halte, muss nicht notwendigerweise sofort zu einer Militärintervention der USA oder Israels führen. Vorgezeichnet wäre in diesem Fall ein Weg des vertragskonformen Rückzugs aus dem erweiterten Safeguards-Abkommen mit der IAEA und möglicherweise auch aus dem NPT. Das Modell dafür wäre Nord-Korea. Diplomatisch würde dies eine weitere Isolierung des Iran bedeuten, jedoch mit dem bedeutsamen Unterschied, dass die Russische Föderation sehr wohl an guten Beziehungen zum Iran interessiert ist.

10) Eine Schlüsselrolle kommt somit der Russischen Föderation zu. Sie ist an einer strategischen Kooperation mit dem Iran interessiert und beabsichtigt, Kerntechnologie und moderne Waffensysteme (MIG 29, Kampfpanzer, Air Defense) in den Iran zu exportieren. Aus diesem Grund darf angenommen werden, dass die RF ein Veto gegen eine allfällige UN-Sicherheitsratsresolution einlegen könnte, die Iran zum Casus Belli machen soll. In diesem Fall - es war dies ja auch der beabsichtigte Eskalationspfad im Fall des Irak - würden die USA möglicherweise unilateral handeln.

11) Die Neocons in den USA vertreten zT die Auffassung, militärische Gewaltanwendung gegen Irans Nuklearprogramm ließe sich in Kombination mit der Unterstützung regimefeindlicher Gruppen, etwa der MEK, zu einem Szenario für einen Regimewechsel kombinieren. Luftangriffe gegen die Nuklearanlagen des Iran sind somit aus Sicht der Neocons mit Enthauptungsschlägen gegen die politische und religiöse Elite zu kombinieren, in der Hoffnung auf eine allgemeinen Aufstand und einen Regimewechsel.

12) Die militärischen Planungen und Vorbereitungen seitens der USA sind schon recht weit vorangekommen. Seit Mitte 2004 dürften nach Veröffentlichungen in US-Medien bereits technische Aufklärungs- und Zielerfassungsoperationen im Iran stattfinden, sowie zeitweise special forces im Einsatz gewesen sein. Eine ausführliche Zielplanung dürfte ebenfalls bereits erfolgt sein. Entgegen der weit verbreiteten Auffassung, ein weiteres militärisches Engagement der USA sei angesichts der Bilanz des Irak-Kriegs unwahrscheinlich, würde eine ausschließliche Luftoperation der USA mit Luftstreitkräften und Lenkwaffen kaum ein Risiko eigener Verluste in sich bergen. Die Air Force und die Navy könnten in einem einzigen Schlag gleichzeitig mehrere tausend Ziele fast ohne eigenes Risiko angreifen.

13) Der tatsächliche `Erfolg´ einer solchen Operation zur Zerstörung tatsächlicher oder vermuteter iranischer Nuklearanlagen ist höchst zweifelhaft.

14) Seit einigen Monaten sind verschiedene Nachrichten und Hinweise aus Expertenkreisen und Medien in den USA durchgesickert, dass im Fall einer Operation gegen Iran auch substrategische Kernwaffen kleiner Sprengkraft eingesetzt werden könnten. Speziell entwickelte Mini-Nukes, die diese Aufgabe übernehmen sollen, existieren vermutlich noch nicht. Die Rede ist höchstwahrscheinlich vom Sprengkopf B61 Modell 11, der sich seit etlichen Jahren im Arsenal der USA und NATO befindet. Wieweit dies ernst gemeint ist oder eher dem Feld der psychologischen Kriegsführung zuzurechnen ist, soll hier nicht beurteilt werden, jedenfalls war des öfteren die Rede davon.

15) Die gegenwärtige Krise der Regierung Bush mit all ihren Skandalen und der schlechten Sicherheitslage im Irak ist mE kein Gegenargument gegen die Wahrscheinlichkeit einer Militärintervention im Iran. Für einen `begrenzten Militärschlag´ ohne Bodenoffensive ist nahezu keine mediale `Aufwärmphase´ nötig. Das eigene Risiko ist scheinbar minimal. Das Risiko einer gewaltigen Eskalation im Nahen Osten und auch eines Jihad des Iran gegen die USA ist jedoch sehr hoch. Aber dafür hatte man auch im Fall des Irak-Krieges keinerlei Verständnis und es steht zu befürchten, dass dies heute auch nicht der Fall ist. Michael Scheuer, Ex-CIA Leiter der Abteilung für Maßnahmen gegenüber Al-Kaida hat diesen Zustand als „imperiale Hybris“ bezeichnet.

16) Eine etwaige Militäroperation sowohl Israels oder der USA gegenüber Iran wird in offizieller stillschweigender Duldung, aber in deutlicher strategischer Kooperation stattfinden. Wenn Israel allein handelt, so wird es irakischen Luftraum überfliegen. Wenn die USA alleine handeln, so wird es eine Abstimmung mit Israel geben.

17) Es ist unzutreffend anzunehmen, der Kern des `Problems´ wäre `lediglich´ das iranische Nuklearprogramm. Genau so wenig wie im Fall des Irak dessen nicht-existentes Programm von Massenvernichtungswaffen (MVW) teil der Lösung werden durfte, indem der Antritt des Wahrheitsbeweises der Nichtexistenz von MVW unzulässig war (die Ultimaten vor Kriegsbeginn seitens der USA), wird dies im Fall einer beabsichtigen Eskalation gegenüber Iran der Fall sein.

18) Ein Eskalationszenario könnte so aussehen. Zunächst ein `Scheitern´ der EU-Iran Verhandlungen aus prinzipiellen Gründen oder anhand von technischen und prozeduralen Ursachen. Verweis an den UN-Sicherheitsrat. Anders als im Fall des Irak würde hier die IAEA mit gestärktem Selbstbewusstsein auftreten und versuchen, die Eskalation abzudämpfen und wieder auf die sachliche `nukleare Ebene´ zu bringen. Nach dem vergeblichen Versuch, im Sicherheitsrat ein Mandat zu erhalten, hätten die USA zwei Optionen. Die nordkoreanische. Das hieße fast nichts zu tun. Die irakische. Anzugreifen. Tertium non datur. Iran vernünftig macht- und energiepolitisch einzudämmen oder einzuhegen, davon ist seitens der Regierung Bush noch nichts zu vernehmen gewesen.

19) Sollte es sich tatsächlich bei einem Teil der iranischen Elite auch primär um energiepolitische Motive handeln und nicht nur um machtpolitische, so wäre die EU gut beraten, Iran Hilfestellungen bei der Errichtung von konventionellen Energieträgern, etwa für Gaskraftwerke und bei der Aufschließung seiner Erdgasressourcen anzubieten und regenerative Energieträger stärker zu forcieren. Wo sind die europäischen Firmen, die im Iran Gaskraftwerke bauen wollen und dessen Energieversorgung abseits der Kerntechnik absichern könnten? Wo sind sie?

20) Ich hoffe ich irre mich und ich hoffe ich sehe zu schwarz.

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01 Oktober 2005

Die Debatte um den türkischen EU-Beitritt

Ein bedingungsloser EU-Beitritt der Türkei - auch in fernerer Zukunft - könnte sich als der verhängnisvollste Fehler der EU herausstellen. Nicht, weil es sich um einen Kulturkampf zwischen dem "christlichen Abendland" und dem "muselmanischen Morgenland" handelt. Herr Huntington sieht hier alt aus und wer sich auf ihn beruft, setzt auf das falsche Pferd.

Nicht deshalb, weil europäische Chauvinisten deutsche oder sonst welche Leitkulturen etablieren wollen oder aus der Türkei gar eine islamistische Bedrohung erwartbar ist.

Die Argumente der Beitrittsbefürworter in der EU sind ökonomischer Natur und zum Teil auch geo- und sicherheitspolitischer Natur. Es geht natürlich um Liberalisierung, die Öffnung von neuen Märkten, um Industriestandorte und um neue und billige Arbeitskräfte. Genauso geht es um die strategische Bedeutung der Region, um den Ölreichtum zwischen dem Schwarzem Meer und Kaspischen Meer.

Das wirklich Trennende ist etwas anderes. Eine gänzliche unterschiedliche Geistesgeschichte. Europa in seiner jetzigen Form und politischen Verfaßtheit fußt nach etlichen selbstverschuldeten großen Katastrophen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert auf den Werten der Auklärung, der Französischen Revolution, einer Trennung von Religion und Staat und der Universalität von Bürger-, Freiheits- und Menschenrechten. Von der Unmündigkeit des Feudalismus und Absolutismus bis in die Moderne hatten die entwickelten europäischen Demokratien einen langen Weg von mindestends 150 Jahren zurückzulegen. Für die Türkei soll dies im Schnellverfahren möglich sein?

Bei aller Sympathie, bei allem Abwägen, bei aller Distanz gegenüber Kulturchauvinisten, Kulturkampf-Apologeten und Eurozentristen: Kann man einen Staat mit 70 Millionen Einwohnern aus der Vormoderne in die Postmoderne katapultieren und dabei die Aufklärung und Säkulariserung überspringen? Hat schon jemand diesen Geschichtsbeschleuniger erfunden, der eine kollektive Befindlichkeit so schnell und gründlich verändern könnte? Die Türkei ist nur de jure ein säkularer Staat. Defacto nicht.

Der Aufnahmeprozeß der Türkei in die EU wird sich wahrscheinlich trotz des innenpolitisch motivierten vorsichtigen Widerspruchs der österreichischen Regierung nicht verhindern lassen. Das Unbehagen der europäischen Bürger, die Entfremdung zwischen den Eliten und den "Untertanen" wird dadurch eher noch zunehmen.

Europa quo vadis?

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