27 Mai 2006

Al-Qaida in den Konzernzentralen

Europas Zukunft. Von Präventiv- bis zu Umweltkriegen: Es droht die schleichende Erosion des politischen Systems.

Von Georg Schöfbänker (Die Presse, Printausgabe, 27.05.2006)

[Ich wurde von "Die Presse" gebeten, einen Text über Europas Sicherheit in 50 Jahren zu schreiben, leider wurde vom Redakteur mein Titel völlig entstellt]

Die Begriffe "Europa" und "Sicherheit" haben sich schon in den letzten 50 Jahren erheblich verändert. Es ist zu erwarten, dass sie sich in den nächsten 50 Jahren noch radikaler verändern werden als bisher. Die Frage "Europas Sicherheit in 50 Jahren?" enthält daher Begriffe, die zunächst zu klären sind.

Wie wird Europa aussehen? Wird es ein Bund von bislang 25 sich weiter integrierenden Nationalstaaten sein oder ein Projekt in der Krise? Wird es neue Mitglieder geben? Die erwartete Aufnahme Bulgariens und Rumäniens ist eine Sache. Die Aufnahme der Türkei oder gar der Ukraine und der Russischen Föderation als langfristige Perspektive würde nicht nur einen Import der internen Sicherheitsprobleme dieser Länder bedeuten, sondern auch neue problematische Außengrenzen schaffen. Wo also werden diese neuen Grenzen verlaufen?

Was ist Sicherheit? Innere Sicherheit? Äußere? Wie werden sich die Definitionen von "Krieg", "Frieden" und "Terrorismus" verändern? Krieg ist ein gewaltsamer Massenkonflikt, bei dem mindestens ein staatlicher Akteur beteiligt ist. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Zumindest für das gegenwärtige Europa sind Fragen von Krieg und Frieden säkular definiert.

Retheologisierte Politik

Die Kernelemente in diesem Sinn sind: Ein Gewaltmonopol des Staates, Rechtsstaatlichkeit, demokratische Partizipation, eine "positive" Konfliktkultur, soziale Gerechtigkeit und Affektkontrolle der Individuen. "Terrorismus" ist eine undifferenzierte Gewaltausübung von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren an vorwiegend Unschuldigen mit dem Ziel, durch einen Furcht und Gewalt einflößenden Kommunikationsprozess das Verhalten von politischen Entscheidungsträgern zu beeinflussen. Eine Entsäkularisierung und Retheologisierung der Politik in Europa, wie dies gerade in den USA stattfindet, könnte zu einer Erosion oder gar gänzlichen Metamorphose des "Politischen" schlechthin führen.

Bislang wurde das "Friedensprojekt Europa" Wirklichkeit. Dennoch hat die Geschichte schon zweimal "einen Haken geschlagen". Der Kollaps des Sowjetkommunismus und 9/11 veränderten die Welt bis in die Grundfesten. Neue Erschütterungen in der islamisch-arabischen Welt könnten noch gravierendere Auswirkungen haben.

Die großen Konfliktpotenziale, die Europa in militärische Auseinandersetzungen verwickeln könnten, sind militärische Bedrohung von außen durch Ressourcenverknappung, Kampf um Energie und billige Rohstoffe. Die Frage der zukünftigen Energiepolitik wird somit im Hinblick auf drohende Umweltkriege eine entscheidende sicherheitspolitische Bedeutung haben.

Ebenso würde die Herausbildung einer gänzlich neuen Weltordnung mit der Genese neuer regionaler Machtzentren, etwa China oder Indien, Europas Sicherheit massiv tangieren. Die Welt ist seit dem Ende des Kalten Krieges multipolar geworden, und selbst eine Hypermacht kann gegen eine Koalitionsbildung anderer den Gang der Geschichte nicht mehr entscheidend bestimmen. Außer durch Destruktion.

Ein weiteres Konfliktpotenzial droht durch schleichende Erosion des Systems internationaler Beziehungen, die heute noch halbwegs auf dem Völkerrecht basieren. Modellhafte Präventivkriege, wie sie seit 9/11 stattfinden, sind wie Guantanamo nur ein Ausdruck dieses erodierenden Trends.

Ein Zerfall des transatlantischen Konsenses ist ebenfalls nicht auszuschließen. Europa nimmt weltweit noch eine absolute Sonderstellung ein mit seiner säkularen Verfasstheit, seiner Trennung von Religion und Politik. Auch das muss nicht so bleiben. Eine Veränderung wäre ein extremes, sicherheitsbedeutsames Ereignis. Neue Erdbeben im internationalen politischen System, wie etwa der Zerfall der USA, Russlands oder Chinas oder allfällige Bürgerkriege in diesen Imperien oder an ihren Rändern, hätten ebenfalls massive sicherheitspolitische Auswirkungen.

Eine weitere bedeutsame Frage ist, ob Europa die letzten Selbstbeschränkungen zivilisierter Außenpolitik abstreifen und imperiale Züge annehmen wird. Ob es an seinen Rändern militärisch intervenieren wird, zum Beispiel, um den zunehmenden Migrationsdruck aus Nordafrika einzudämmen.

Die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen in der islamisch-arabischen Welt ist noch keine reale Bedrohung für die Sicherheit Europas. Auch das könnte sich ändern. Ob sich in einem solchen Fall - etwa Kernwaffen in der Hand Irans oder Saudi Arabiens - jemals wieder so etwas wie eine halbwegs stabile nukleare Abschreckung etablieren ließe, ist eine völlig offene Frage.

Größte Gefahr kommt von innen

Die Delegitimierung der politischen Macht in Europa durch transnationale Konzerne, die zunehmend Kapital und Arbeitsplätze verschieben, führt zur Ohnmacht selbst des politischen mündigen Bürgers - von der Europa-Apathie wollen wir gar nicht erst sprechen. So ist es wahrscheinlich, dass transnational agierende Terror-Netzwerke (und al-Qaida war erst der Anfang dieses Mega-Trends) vor den Konzernzentralen Europas nicht Halt machen werden. Ein solcher asymmetrischer Konflikt ist niemals militärisch zu gewinnen, auch wenn es sich nur um "nadelstichartige Attacken" handeln kann, die nicht mit dem Destruktionspotenzial des Kalten Krieges vergleichbar sind.

Mittelfristig dürfte die größte Sicherheitsbedrohung für Europa aber endogen sein: von einem demografischen Trend - ganz gleich, wie man Migration zu steuern gedenkt -, der nicht zu stoppen ist. Die Nicht-Integrierbarkeit des Nicht-Säkularen, des politisch Absoluten, das seine Forderungen als nicht verhandelbar ansieht.

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